Der „Russische Autobus“ – ein erniedrigender Weg zur Arbeit

Quelle

„Russischer Autobus, so nannte man eine Formation menschlicher Körper. Hunderte Häftlinge traten im Lager in Fünferreihen an und der Aufseher band diese ‚Formationen‘ fest mit einem Hanfseil zusammen. Das spätere Stahlseil wurde mit einem Vorhängeschloss verschlossen, dessen Schlüssel der Eskortentführer hatte. Dieser erinnerte jedes Mal daran, dass im Falle einer Flucht ohne Vorwarnung geschossen werde. Diese Masse aus 250–300 Körpern musste sich dann in Bewegung setzen, und alle im Gleichschritt. Bei jedem Wetter mussten sie durch die zivile Zone hindurch bis zu ihrem Arbeitsplatz, der etwa 950 m entfernt lag, der Schacht Eduard. Ich habe ausgerechnet, dass sich auf diese Art und Weise über 1 140 km gelaufen bin.“

Zdeněk Mandrholec (*1930), ehemaliger politischer Häftling in Jáchymov (St. Joachimsthal), verurteilt zur Zwangsarbeit u.a. im Lager Nikolaj. Quelle: Zeitzeugenbericht für eine Informationstafel des erneuerten Lehrpfads „Die Hölle von Jáchymov“ des Vereins Političtí vězni.cz (Politische Häftlinge.cz), 24. Mai 2015.

Sachanalyse

Das während des Kalten Krieges im Jahr 1950 in Jáchymov (St. Joachimsthal) errichtete Lager Nikolaj lag nicht in unmittelbarer Nachbarschaft einer Urangrube. Die dort inhaftierten politischen und kriminellen Häftlinge des tschechoslowakischen kommunistischen Regimes mussten einen Kilometer zu Fuß zum nächstgelegenen Schacht Eduard zurücklegen, wo sie gezwungen wurden Uran für die sowjetische Atomwaffenindustrie abzubauen. Da ihr Weg zum Uranschacht über eine Straße für den Uranerztransport sowie über Gelände führte, auf dem sich zivile Mitarbeiter der Uranbergwerke von Jáchymov bewegten, wurden die Häftlinge von den Aufsehern aneinandergefesselt und strengstens bewacht. Aufgrund der einfach aber zweckmäßig gestalteten Fesselung der Häftlinge mit einem Hanf- oder Stahlseil, nannte man diese Art des Häftlingstransports spöttisch „Russischer Autobus“, da vermeintlich die Ausstattung und der Zustand der Busse (und sonstiger Technik) in Russland auf einem ähnlich niedrigen Niveau waren. Im Lager Nikolaj waren neben dem schweren Arbeitsweg auch die Lebensbedingungen der Häftlinge sehr hart, deshalb war es unter den Lagern in Jáchymov und Umgebung besonders gefürchtet. Bei ihrer Entlassung nach oftmals vielen Jahren Haft mussten die Häftlinge unterscheiben, zurück in der Freiheit niemandem von ihren Erlebnissen in den Lagern und in der Urangewinnung zu erzählen.

Arbeitsaufträge
  1. Erläutere, was der Begriff „Russischer Autobus“ bezeichnet?
  2. Stelle Vermutungen an, wer diesen Begriff geprägt haben könnte?
  3. Wenn die Gefangenen auf diese Art durch den zivilen Bereich von Jáchymov gelaufen sind, was könnte die Zivilbevölkerung des Ortes davon gehalten haben?
  4. Versetze dich in die Rolle eines ehemaligen Häftlings, der aus dem Lager Nikolaj entlassen wurde und dabei unterschreiben musste, niemandem von seinen Erlebnissen im Uranabbau und im Lager zu erzählen. Denke Dir eine Situation aus, in der er dennoch mit jemandem ihm Vertrauten über den „Russischen Autobus“ sprach.