Erinnerungsort Uran

Die Erinnerungskultur des Uranabbaus in der deutsch-tschechischen Grenzregion

Der Begriff Erinnerungsorte (tschechisch: místa páměti, französisch: lieux de mémoires) wurde geprägt vom französischen Historiker Pierre Nora. In seinem siebenbändigen Werk „Les lieux de mémoires“, das in den 1980er und 90er Jahren erschien, trug er 130 „Orte“ zusammen, an und „in denen sich das Gedächtnis der Nation Frankreich in einem besonderen Maße kondensiert, verkörpert oder kristallisiert hat.“ Essays zu den einzelnen „Orten“ beschrieben, welche Bedeutung sie für die französische Identität besaßen und besitzen sowie wie und wodurch sich diese Bedeutungen im Laufe der Zeit veränderten. Weitere Wissenschaftler übertrugen Noras Konzept der Erinnerungsorte. Im Jahr 2001 erschein das von den Historikern Etienne François und  Hagen Schulze herausgegebene dreibändige Werk „Deutsche Erinnerungsorte“.

Anhand der „Deutschen Erinnerungsorte“ soll knapp erklärt werden, welch unterschiedlich geartete reale oder metaphorische „Orte“ die Erinnerungsorte umfassen können. Reale Erinnerungsorte (wie zum Beispiel die Berliner Mauer) verknüpfen Menschen einer bestimmten Gesellschaft mit für sie bedeutsamen historischen oder sagenhaften Ereignissen (in unserm Beispiel die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg sowie den Fall der Mauer mit der Wiedervereinigung).  Zu den metaphorischen Orten, die nur im übertragenen Sinne Orte darstellen, gehören historische Persönlichkeiten, Ereignisse, Prozesse oder auch Zeitangaben (zum Beispiel Goethe, der Westfälische Friede, Flucht und Vertreibung oder 1968), die Menschen einer bestimmten Gesellschaft (hier der deutschen) mit bestimmten Erinnerungen, Vorstellungen und Bildern verbinden.

Erinnerungskultur (tschechisch: kultura paměti) kann man mit Hans Günther Hockerts verstehen als Sammelbegriff „für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit – mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten ‚Zwecke“. Im Vordergrund steht die  Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart und die Identität von Gesellschaften und gesellschaftlichen Gruppen. Christoph Cornelißen versteht Erinnerungskultur als „formale[n] Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse […], seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur.“ Er schließt als Träger von Erinnerungskultur neben sozialen Gruppen, Nationen und Staaten auch Individuen mit ihren persönlichen Erinnerungen ein, insofern sie in der Öffentlichkeit Spuren hinterlassen haben. Die Aneignung erinnerter Vergangenheit  verläuft vornehmlich über Texte, visuelle Medien, Denkmäler, Bauten, Feste, Rituale und gedankliche Ordnungen.

Warum betrachten wir auf diesen Internetseiten Uran oder den  Uranabbau in der deutsch-tschechischen Grenzregion in Zusammenhang mit Erinnerungsorten und Erinnerungskultur? Die Erinnerung an den Uranabbau in der deutsch-tschechischen Grenzregion Erzgebirge ist in den heutigen Gesellschaften Deutschlands und Tschechiens völlig anders geartet. In Deutschland ist die Erinnerung regional konzentriert auf die östlichen Bundesländer. Das Zentrum der Erinnerungen bildet das 1947 gegründete sowjetische (später sowjetisch-deutsche) Unternehmen WISMUT, das die sächsischen und thüringischen Uranvorkommen für das sowjetische Atomprogramm ausbeuten sollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ebenfalls in der Tschechoslowakei Uran für die UdSSR abgebaut. Im heutigen Tschechien (sowie der Slowakei) steht die Stadt Jáchymov (deutsch: St. Joachimsthal) als Symbol für den Uranabbau. Man erinnert sich besonders an die vielen politischen Häftlinge des tschechoslowakischen kommunistischen Regimes, die dort seit 1948 in Zwangsarbeit Uran fördern mussten. Da die politischen Häftlinge aus dem ganzen Land nach Jáchymov (und zu weiteren Stätten des Uranbergbaus) gebracht wurden, ist die Erinnerung in der heutigen tschechischen (und slowakischen) Gesellschaft eher gesamtstaatlich.

Diese Webseite stellt neben grundlegenden Informationen zur Geschichte des Uranbergbaus in der deutsch-tschechischen Grenzregion einschlägige Erinnerungsorte, Medien und Träger der Erinnerungskultur vor. Warum es lohnend für Lehrer und Schüler ist, sich mit diesen Themen zu beschäftigen erfahren Sie auf der Seite IM UNTERRICHT.

Literatur

Cornelißen, Christoph, Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven. In: GWU 10 (2003), S. 548-563.

François, Etienne, Schulze, Hagen (Hgg.), Deutscher Erinnerungsorte. 3 Bde., München: Beck, 2001.

Hlavačka, Milan, Erinnerungsorte und deren Verortung im historischen und gesellschaftlichen „Betrieb“. In: Meyer, Katharina (Hg.), Erinnerungsorte des deutsch-tschechischen Zusammenlebens. Sammelband mit Beiträgen zur Konferenz der Arbeitsgruppe des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums Erinnerungsorte in Cheb 5.6.2010, Praha: Antikomplex, 2011, S. 16-24.

Hockerts, Hans Günther, Zugänge zur Zeitgeschichte. Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft. In: Jarausch, Konrad H., Sabrow, Martin (Hgg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a. M.: Campus, 2002, S. 39-73.

Meyer, Katharina (Hg.), Erinnerungsorte des deutsch-tschechischen Zusammenlebens. Sammelband mit Beiträgen zur Konferenz der Arbeitsgruppe des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums Erinnerungsorte in Cheb 5.6.2010, Praha: Antikomplex, 2011.

Nora, Pierre, François, Étienne (Hgg.),  Erinnerungsorte Frankreichs. München: Beck, 2005.

Nosálek, Petr (Hg.), Místa paměti národa. Průvodce po místech spojených s událostmi 2. světové války, Brno: Jota, 2015.

Šustrová, Radka, Hédlová, Lubomíra (Hgg.), Česká paměť. Národ, dějiny a místa paměti. Praha: Academia, 2014.